Dafür ein Beispiel: Amina ist zwölf Jahre alt und leidet unter depressiven Stimmungen. Bereits ihr Opa und ihr Vater waren depressiv erkrankt. Diese Anfälligkeit für Depressionen können sie vererbt haben. Das heißt, die Wahrscheinlichkeit, dass auch Amina depressiv erkrankt, ist etwas höher als bei Kindern von Eltern, die nicht psychisch krank waren. Amina hat dadurch eventuell eine »genetische Veranlagung«, eher als andere Kinder depressiv auf Belastungen und Konflikte zu reagieren. Eine solche Veranlagung heißt aber nur, dass Kinder zum Beispiel aufgrund schwieriger Lebensereignisse eher depressiv erkranken können.
Aminas Geschichte geht aber noch weiter: Aminas Vater wird, als er mit dem Fahrrad von der Arbeit nach Hause fährt, von einem Lastwagen angefahren. Er ist schwer verletzt und muss für mehrere Wochen ins Krankenhaus. Lange ist nicht klar, ob er wieder gesund wird. Amina und ihre Mutter machen sich große Sorgen um ihn. Solche belastenden Lebensereignisse gelten als »psychosoziale Stressoren«. Sie können das Risiko weiter erhöhen, an einer Depression zu erkranken.
Schließlich können auch persönliche Eigenschaften von Amina eine Rolle spielen. Amina ist, schon seitdem sie ganz klein war, schnell unsicher, angespannt und reagiert sehr sensibel auf Stress. Auch eine solche persönliche Eigenschaft kann anfälliger für Depressionen machen. Amina ist deshalb eher ein Orchideen- als ein Löwenzahnkind.
Löwenzahnkinder sind so robust und belastbar, dass sie auch unter schwierigsten Umständen nicht psychisch erkranken. Orchideenkinder sind dagegen so empfindlich, dass schon kleine Belastungen sie aus der Bahn werfen können.
Das Beispiel von Amina zeigt, wie mehrere Faktoren zusammenkommen müssen, damit eine Depression entsteht. Das genetische Risiko allein hätte noch nicht dazu geführt, dass Amina in depressiven Stimmungen versinkt. Hinzu kamen die Sorgen um den schwer verletzten Vater und damit die Angst, einen wichtigen Halt in ihrem Leben zu verlieren. Und vielleicht hätten Amina auch die Sorgen um den Vater nicht so belastet, wenn sie grundsätzlich mit Stress besser umgehen könnte, ein Löwenzahnkind wäre. Das Beispiel zeigt, dass Eltern nicht die alleinige Ursache für die psychische Erkrankung sind.
Trotzdem sollten Eltern ernst nehmen, wenn ihre Kinder belastet, niedergedrückt oder außer Rand und Band wirken. Kinder sind sehr unterschiedlich, aber wenn sie länger als nur ein paar Tage und vielleicht sogar ohne ersichtlichen Grund anders sind, als die Eltern sie kennen, sollten sie mit den Kindern reden und sich eingehender erkundigen, wie es ihnen geht. Dafür sollten sie einen ruhigen Moment wählen, wenn die Kinder gerade nicht mit Schulaufgaben, Alltagsroutinen oder Spielen beschäftigt sind. Oft helfen schon die Anteilnahme und der Rat der Eltern. Manchmal aber bleiben die auffälligen Veränderungen im Verhalten der Kinder und die Eltern wissen nicht mehr weiter. Dann könnte es hilfreich sein, dass sich die Eltern beraten lassen.
Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen helfen auch Jugendlichen. Jugendliche können mit ihren Eltern kommen oder sich ab einem Alter von 15 Jahren auch allein an eine Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*in wenden.
Sie können in die Sprechstunde einer Psychotherapeut*in gehen und schildern, was ihnen Sorgen macht. Dafür gibt es speziell ausgebildete Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen. Anders als die Erwachsenenpsychotherapeut*innen nähern sie sich Kindern oft spielend und zeichnend den Problemen und Konflikten, die die Kinder beschäftigen. Sie arbeiten mit den Kindern auch meist allein – ohne dass die Eltern dabei sind. Sie beraten aber auch die Eltern und überlegen mit ihnen gemeinsam, wie sie dazu beitragen können, dass es ihrem Kind wieder besser geht. Dabei kann es auch um andauernde Konflikte zwischen den Eltern gehen oder auch um psychische Belastungen, unter denen Vater oder Mutter leiden.
Die Eltern müssen davon nicht wissen und auch nichts erfahren, was in der Psychotherapie besprochen wird. Damit die Kosten übernommen werden, müssen sie allerdings gesetzlich krankenversichert sein.
Was der Elternratgeber will
Mit diesem Ratgeber möchte die Bundespsychotherapeutenkammer Eltern weiterhelfen, die sich Sorgen um die psychische Gesundheit ihres Kindes machen. Wir möchten sie über die Herausforderungen, die Kinder je nach Alter zu meistern haben, informieren und sie dabei unterstützen, die Probleme und Konflikte ihrer Kinder besser zu verstehen. Damit Eltern sich vorstellen können, was in einer Psychotherapie passiert, haben wir zu vielen Themen Erfahrungsberichte über eine psychotherapeutische Behandlung eingefügt. Wir möchten Eltern aber auch helfen, professionelle Hilfe zu finden, wenn sie allein nicht mehr weiterwissen. Schließlich bietet der Ratgeber auch besondere Themenschwerpunkte wie Partnerschaftskonflikte und Trennung der Eltern, Schulangst und Schulschwänzen oder körperliche und sexuelle Gewalt.
Krisen sind normal – auch bei Kindern
Kinder müssen, um erwachsen zu werden, viele Entwicklungsschritte meistern. Das ist anstrengender als sich viele Eltern vorstellen und stellt Kinder immer wieder vor große Herausforderungen. Das fängt schon im Säuglingsalter an, wenn sich ein Baby an das Leben außerhalb des Bauchs der Mutter gewöhnen muss. Weitere große Veränderungen im Leben der Kinder sind der Kita-Start oder der Beginn der Schulzeit. Schließlich ist die Pubertät mit ihrer Achterbahn der Gefühle nicht nur für Eltern, sondern auch für die Jugendlichen selbst eine schwierige Zeit der Selbstfindung und des Erwachsenwerdens.
Kein Kind meistert all diese Entwicklungsschritte problemlos. Phasenweise sind Kinder und Jugendliche davon so stark beansprucht, dass sie psychisch darunter leiden und manchmal sogar psychisch erkranken. Fast jedes fünfte Kind in Deutschland erkrankt innerhalb eines Jahres an einem psychischen Leiden. Psychische Erkrankungen gehören durchaus zum Leben. Sie sind genauso alltäglich wie körperliche Erkrankungen. Das braucht Eltern aber keine Angst zu machen. Wie körperliche Erkrankungen können sie behandelt werden, in den meisten Fällen sogar sehr gut. Die Bundespsychotherapeutenkammer möchte deshalb mit diesem Ratgeber Eltern auch Mut machen, sich Rat und Hilfe zu holen, wenn sie selbst nicht mehr weiterwissen.
Ist das noch normal?
Dabei stehen die Eltern zunächst einmal vor der Frage: »Ist das Verhalten meines Kindes noch normal oder muss ich mir Sorgen machen?« Ist es noch normal, dass sich der zweijährige Sohn nicht in die Kita eingewöhnen lässt? Ist es noch normal, wenn ein siebenjähriger Junge keine halbe Stunde ruhig sitzen bleiben kann und in der Schule damit den Unterricht stört? Ist es noch normal, dass die 13-jährige Tochter bei jedem Essen die Kalorien ihrer Mahlzeiten zählt? Ist es noch normal, dass der 18-jährige Sohn ganze Wochenenden hindurch mit Computerspielen verbringt und kein Interesse hat, sich mit Freund*innen zu treffen? Wenn sich Eltern unsicher sind, wie das Verhalten ihrer Kinder einzuschätzen ist, kann es hilfreich sein, sich professionell beraten zu lassen.
Sprechstunden, in denen Eltern ihre Sorgen aufgrund von psychischen Auffälligkeiten ihrer Kinder schildern können, bieten vor allem Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen und Kinder- und Jugendpsychiater*innen an.
Auch Eltern, die kein Deutsch sprechen und bei psychischen Problemen ihres Kindes Hilfe in ihrer Muttersprache suchen, gibt es Informations-, Beratungs- und Behandlungsangebote. Es lohnt sich, danach im Internet zu suchen.