Sexuelle Gewalt ist häufig und passiert öfter in der Familie und im Freundes- und Bekanntenkreis als durch Fremde. Jede siebte bis achte Erwachsene* in Deutschland musste in ihrer Kindheit und Jugend sexuelle Gewalt erfahren. In Deutschland erleben jährlich rund eine Million Mädchen und Jungen sexuelle Gewalt. Das sind pro Schulklasse ein bis zwei Kinder. Zwei Drittel der Opfer sind Mädchen, ein Drittel Jungen.
Wo beginnt sexuelle Gewalt?
Sexuelle Gewalt bei Kindern und Jugendlichen haben zwei Elemente: zum einen die sexuelle Handlung an einer Minderjährigen*, zum anderen der Missbrauch einer überlegenen Vertrauens- oder Machtposition. Die Missbrauchten können nicht willentlich zustimmen oder müssen die sexuellen Handlungen gegen ihren Willen ertragen. Bei Kindern unter 14 Jahren wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass sie sexuellen Handlungen nicht zustimmen können. Sie sind immer als sexuelle Gewalt zu werten.
Es gibt keinen sexuellen Kontakt von Erwachsenen mit Kindern, der nicht verletzend ist. Jede sexuelle Handlung beschädigt die körperliche und seelische Unversehrtheit von Mädchen und Jungen, auch wenn sie nicht strafbar ist. Sie ist insbesondere seelisch zerstörerisch, weil sie das Vertrauen von Kindern und Jugendlichen in erwachsene Beschützer*innen missbraucht.
Sexuelle Gewalt beginnt mit der Belästigung durch Worte, dem Betrachten eines kindlichen Körpers mit sexuellem Interesse und flüchtigen Berührungen von Genitalien oder der Brust über der Kleidung. Solche Berührungen sind stets übergriffig, können aber auch aus Versehen passieren und sollten dann durch eine Entschuldigung aus der Welt geschafft werden.
Sexuelle Gewalt in der Familie zerstört das fundamentale Vertrauen von Kindern gerade in die Erwachsenen, von denen sie Schutz und Geborgenheit erwarten.
Sexuelle Handlungen sind strafbar, wenn der Körper des Kindes sexuell berührt wird, zum Beispiel, wenn die Genitalien des Kindes gerieben werden, ihm Zungenküsse gegeben werden oder wenn eine Erwachsene* sich vom Kind befriedigen lässt. Schwere sexuelle Gewalt sind vaginale, orale oder anale Vergewaltigungen. Zu sexuellem Missbrauch zählen aber auch, Genitalien vor einem Kind zu entblößen oder zu masturbieren, dem Kind pornografische Darstellungen zu zeigen oder das Kind zu sexuellen Handlungen an sich selbst aufzufordern, zum Beispiel vor einer Web-Kamera.
Täter und Täterinnen?
Sexuelle Gewalt wird mehrheitlich von Männern begangen, von Vätern, Großvätern, Onkeln oder Brüdern. Aber auch Mütter, Großmütter, Babysitter, Erzieherinnen oder Leiterinnen von Jugendgruppen können Täterinnen sein. Sexuelle Gewalt kann aber auch durch gleichaltrige und ältere Geschwister oder Mitschüler*innen ausgeübt werden. Etwa ein Drittel der Täter*innen ist selbst noch im Jugendalter. Sexuelle Gewalt findet am häufigsten in der eigenen Familie statt. Vertraute Erwachsene nutzen Kuscheln, Zu-Bett-Bringen, Toben oder Waschen dazu, das Kind intim zu berühren. Mütter sind manchmal Mit-Täterinnen, indem sie nicht einschreiten, sondern den Täter decken und die Tat verschweigen.
Psychische Folgen
Die allermeisten Kinder und Jugendlichen empfinden auch noch lange Zeit danach große Scham und Ekel über den Missbrauch. Sexuelle Gewalt in der Familie zerstört das fundamentale Vertrauen von Kindern gerade in die Erwachsenen, von denen sie Schutz und Geborgenheit erwarten. Sie fühlen sich verlassen und ohnmächtig, häufig gerade auch, weil keine andere Erwachsene* eingeschritten ist. Sie sind weiter emotional von den Eltern abhängig und haben Angst, sie zu verlieren. Deshalb wagen sie es meist nicht, anderen von ihren Erlebnissen zu erzählen oder sich Hilfe zu holen. Fast alle Kinder und Jugendlichen fühlen sich schuldig für das, was ihnen widerfahren ist.
Viele dieser Kinder und Jugendlichen sind schwer traumatisiert. Das Geschehene kehrt in Albträumen zurück, aber auch tagsüber in blitz- und überfallartigen Erinnerungen (»Flashbacks«). Einzelne Teile des Ereignisses wie Gerüche, Geräusche, körperliche Empfindungen, aber auch bruchstückhafte Szenen des Geschehens sind plötzlich wieder gegenwärtig und können genauso bedrohlich und ängstigend sein wie die reale Situation. Manche Kinder spielen das Erlebte immer wieder mit Puppen nach. Meistens meiden Traumatisierte allerdings alles, was sie an das verletzende Ereignis erinnern könnte. Sie sind schließlich auch schreckhaft, nervös, ängstlich und manchmal auch reizbar. Wenn all diese Anzeichen zusammenkommen, sprechen Expert*innen von einer »posttraumatischen Belastungsstörung«.
Bei missbrauchten Kindern und Jugendlichen ist auch das Risiko für Depressionen, Essstörungen, Drogensucht, selbstverletzendes Verhalten und Suizidalität im Erwachsenenalter erhöht.
Viele missbrauchte Kinder zeigen auch andere, weniger spezifische Anzeichen für traumatische Erlebnisse. Sie haben Angst vor dem Alleinsein oder im Dunkeln. Sie leiden häufig unter Kopf- und Bauchschmerzen. Manche Kinder nässen wieder ein oder möchten nicht mehr im eigenen Bett schlafen. Wieder andere Kinder sind sehr aggressiv, weil sie sich schnell bedroht und gefährdet erleben und meinen, sich wehren zu müssen. Sie sind in dauernder Kampf- und Alarmbereitschaft. Menschen, die als Kind sexuelle Gewalt erlitten, fällt es als Erwachsene häufig schwer, in Beziehungen Vertrauen zu entwickeln, oder sie leben wie mit einer angezogenen Handbremse, weil sie wenig Selbstvertrauen haben und sich schnell zurückziehen. Häufig ist auch ihre Sexualität beeinträchtigt.
Bei schwerer sexueller Gewalt kann es auch zu einer sogenannten dissoziativen Störung kommen. Eine Dissoziation ist eine psychische Reaktion, um einen Menschen während eines bedrohlichen, traumatischen Erlebnisses davor zu schützen, seelisch überwältigt zu werden. Die Menschen können sich dadurch von dem Erlebten abkoppeln. Schwere und vor allem andauernde sexuelle Gewalt kann aber dazu führen, dass solche dissoziativen Reaktionen bleiben. Die Opfer empfinden sich zeitweise als losgelöst von ihren eigenen Gedanken und Gefühlen und auch ihrem eigenen Körper. Oder sie erinnern sich nicht mehr daran, was sie gemacht haben. Sie unternehmen zum Beispiel mehrtägige Reisen und können sich danach nicht mehr daran erinnern. Eine schwere, aber sehr seltene Form der dissoziativen Störung ist die dissoziative Identitätsstörung. Dabei wird die Persönlichkeit in mehrere Identitäten aufgespalten, um den Schrecken aufzuteilen und zu überleben.
Wichtig ist, dass Eltern in den ersten Wochen nach dem Missbrauch wachsam sind, wie es ihrem Kind geht. Falls es psychische Auffälligkeiten zeigt, sollten sie Hilfe suchen.
Doktorspiele
Ab drei Jahren erkunden Kinder ihre Geschlechtsorgane, imitieren das Verhalten von Erwachsenen (Händchen halten, küssen, heiraten) und spielen Zeugungs- und Geburtsszenen nach. Solche Doktorspiele sind normal, Eltern sollten sie zulassen und nicht verbieten. Dabei können folgende Regeln als Orientierung gelten (aus Broschüre »Mutig fragen – besonnen handeln«):
Hilfe holen ist kein Petzen!
Kindgerechtes Wissen über Sexualität
Kinder brauchen kindgerechtes Wissen über ihren Körper und über Sexualität. Das kann ihnen auch helfen, um über missbräuchliche Erlebnisse zu sprechen. Wenn Kinder Worte für Sexualität und intime Körperteile haben, können sie sagen, was ist, wenn ihnen etwas passiert, das ihnen komisch vorkommt. Kinder sollten erleben, dass ihr Körper ihnen gehört und niemand sonst darüber bestimmen darf. Wenn ein Kind zum Beispiel nicht von der Oma zur Begrüßung auf die Wange geküsst werden möchte, sollten das die Oma und auch die Eltern respektieren.
Welche Hinweise gibt es für sexuelle Gewalt?
Die Reaktionen von Kindern auf sexuelle Gewalt können sehr vielfältig sein. Es gibt keine Anzeichen, die sicher auf einen Missbrauch schließen lassen. Manche Kinder zeigen aber auch überhaupt keine Auffälligkeiten. Manchmal treten diese auch erst mit großem zeitlichem Abstand auf. Folgende Verhaltensweisen können jedoch ein Hinweis auf sexuelle Gewalt sein (nach Goldbeck und Kollegen, 2017):
Wo finden wir Hilfe?
Wenn Sie die Vermutung haben oder sogar wissen, dass ein Kind sexuell missbraucht wird, schauen Sie nicht weg. Werden Sie nicht zur Mitwisser*in oder gar zur Mittäter*in. Kinder brauchen Erwachsene, die ihnen helfen.
Auch die Sozialarbeiter*innen des Allgemeinen Sozialen Dienstes bieten in allen deutschen Kommunen Hilfe an, wenn ein Kind Schutz vor körperlicher oder sexueller Gewalt oder Vernachlässigung benötigt. Sie beraten auch in Fragen der Partnerschaft und bei Trennung und Scheidung. Googeln Sie »Allgemeiner Sozialer Dienst« in Ihrem Ort oder Kreis.
Das Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch hilft Menschen, die sexuell missbraucht wurden. Es berät aber auch Menschen, die sich um ein Kind sorgen, einen Verdacht oder ein komisches Gefühl haben. Die Berater*innen können helfen, einen Verdacht zu klären, und wissen, welche Hilfe und Unterstützung es vor Ort gibt. Das Hilfe-Telefon erreichen Sie unter
0800 2 25 55 30 oder auch online unter
www.hilfe-telefon-missbrauch.online
Hier können Sie nach Beratungsstellen und Notdiensten vor Ort suchen. Hier erhalten Sie auch Beratung, welche rechtlichen Schritte möglich sind.
www.hilfe-portal-missbrauch.de
Wenn ein Kind Opfer von Missbrauch geworden ist und Hilfe braucht, um das Erlebte zu verarbeiten, bieten Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen und Kinder- und Jugendpsychiater*innen sowie Kinder- und Jugendärzt*innen kurzfristig Termine an.
Besteht der Verdacht auf körperliche Verletzungen, sollte das sofort abgeklärt werden. Hierfür gibt es spezialisierte Kinderschutzambulanzen. Suchen Sie im Internet nach: »Kinderschutzambulanz« und Ihrem Ort oder Kreis. Falls Sie solch ein Angebot in Ihrer Nähe nicht finden, können Sie auch Ihre Kinderärzt*in oder eine Kinderklinik aufsuchen – aber möglichst noch am selben Tag. Die unmittelbare Dokumentation von Verletzungen ist wichtig für mögliche spätere Gerichtsverfahren.
Wenn Sie mehr wissen wollen
Erfahrungsbericht
Über die Folgen sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend.